Scherenschnitt ist auch eine Form von PapierZen, auch wenn ich mich – glaube ich – nicht wirklich entspannen würde beim Ausschneiden von Vignetten, Bildern & Co. Bisher fehlte mir dazu auch die Motivation, besser gesagt: bis gestern. Da war ich auf der Eröffnung einer Ausstellung in der Heinrich Heine Bibliothek in Gotha mit ganz besonderen Scherenschnitten einer außergewöhnlichen Frau, die ihre Kunst „Art Naive“ nennt.

Art Naive versus Naive Malerei

Naive Malerei kennt man ja, auch wenn ich die Bezeichnung schon immer seltsam fand. Damit wurden und werden Bilder von Laienmalern bezeichnet, die schematisch Alltagssituationen fantasievoll darstellen. Solche Bilder malt Erika Schirmer, die Künstlerin, die ich gestern kennengelernt habe, auch. Aber vor allem gestaltet sie vergleichbare Bilder aus Papier, aus Scherenschnitten ergänzt um ganz unterschiedliche Papiere. So entstehen Bilder, die von weitem wie Naive Malerei wirken und sich von Nahem als zauberhafte Collagen entpuppten.

Die Künstlerin Erika Schirmer

Mit Scherenschnitten beschäftigt sich Erika Schirmer seit 20 Jahren. Da war sie bereits über 70, damit ist sie ein wunderbares Beispiel dafür, dass man auch im Alter etwas erlernen und die Fähigkeit zur Perfektion entwiekeln kann. Damals hat sie nach dem Tod ihres Mannes zunächst Blumen gesammelt, gepresst, aufgeklebt und Gedichte dazu geschrieben. Dann entdeckte sie den Scherenschnitt und schnitt die ersten Vignetten. Heute schneidet sie Bilder – aus einem Stück Papier! – im Format von 50 cm x 70 cm. Mein Lieblingsbild, die Winterlandschaft, ist so ein Bild. Im nächsten Schritt bringt sie mit verschiedenen Papieren Farbe ins Bild.
Erika Schirmer ist 1926 in Schlesien geboren und nach ihrer Flucht am Ende des zweiten Weltkriegs zunächst auf Rügen und dann in Nordhausen in Thüringen gelandet und gestrandet. Sie hat dort als Erzieherin gearbeitet, geheiratet und lebt auch heute noch in dem kleinen Ort.

Die kleine weiße Friedenstaube

Als junge Frau hat sie etwas geschafft, wofür sie heute unabhängig von ihrer Kunst bekannt ist. Sie hat Text und Melodie des Liedes „Die kleine weiße Friedenstaube“ geschrieben. Ok, das ist nur halb richtig, zunächst hat sie das Lied im Kindergarten gesungen, ihre Praktikantinnen haben dafür gesorgt, dass es in die Welt getragen wurde. Auf die Idee zu dem Lied kam sie im März 1949, als sie an einem mit Brettern vernageltem Haus ein Plakat mit einer Friedenstaube entdeckte. Sie erinnerte sich an das Leid, dass der Krieg ihr und unzähligen Menschen zugefügt hatte und dachte: Flieg, kleine Friedenstaube, und sorge dafür, dass es keinen Krieg mehr gibt. Daraus entstand die heutige zweite Strophe des Liedes, die sie noch am gleichen Tag in ihrer Kindergartengruppe sang. Die erste Strophe schrieb sie später wie auch die Noten, die Noten kamen erst, als zwei Jahre später ein Verlag danach fragte. In der DDR wurde das Lied zu einem „Kult-Lied“ der Kinder. Für die Ausstellung hat Erika Schirmer natürlich auch dieses Lied mit einem Scherenschnitt gestaltet.

Eine Auswahl der Bilder ist noch bis Ende des Jahres in der Stadtbücherei Gotha zu sehen!